Station 1
Ich lebe zu Hause, kann aber nicht tun, was ich will
Es ist nicht einfach über Gewalt im häuslichen Bereich zu sprechen, da die Familie und die eigene Wohnung als emotionale Rückzugsorte ihren Mitgliedern Sicherheit und Unterstützung geben sollen. Es scheint unvorstellbar zu sein, dass dort ältere Menschen Gewalt ausgesetzt sind, jedoch ist das keine Seltenheit.
Unter körperlicher Gewalt im häuslichen Bereich versteht man Handlungen von Personen, die in einer Vertrauensbeziehung zu einem älteren Menschen stehen. Darunter fallen Dinge wie heftig an den Armen anfassen, schubsen, zwicken und stoßen, abrupt vom Sessel hochziehen, mit Gegenständen oder mit den Händen schlagen, an den Haaren reißen, zum Essen zwingen oder die Speisen zu heiß bzw. zu kalt servieren. Solche Attacken verursachen Schmerzen und führen oft zu Verletzungen. Die äußerlich sichtbaren Folgen sind oft blaue Augen, Blutergüsse, Striemen oder Knochenbrüche. Verletzungen wie Gehirnerschütterungen oder innere Blutungen bleiben jedoch nicht selten unerkannt und unbehandelt.
Gewalttätig handelt auch jede oder jeder, der notwendige Hilfeleistungen verweigert oder unterlässt. Mangelhafte oder fehlende Körperpflege zieht Hautschäden nach sich, Flüssigkeitsmangel führt zu Schwindel und Verwirrtheitszuständen mit erheblicher Sturzgefahr. Aufgrund von Bewegungsmangel kommt es zur Verkürzung von Muskeln und Sehnen und in weiterer Folge zum Wundliegen. Das alles ist äußerst schmerzhaft und führt wiederum zu noch stärkerer Abhängigkeit.
Ebenso sind alle Formen von nicht erforderlichen körperlichen Berührungen oder aufgezwungenen sexuellen Kontakten erhebliche Verletzungen der Privatsphäre und damit ebenso körperliche Gewalt. Auch Einschränkungen des freien Willens und einer selbständigen Lebensführung durch Verbote wie „kein Alkohol“, „keine Süßigkeiten“ oder der Zwang zum Essen bestimmter Speisen sind Gewalt. Eine extreme Form der Freiheitsberaubung ist es zudem, wenn ältere Menschen eingesperrt oder mit überdosierten Medikamenten an ihren Bewegungsmöglichkeiten gehindert werden.
Es gibt keine einfachen Erklärungen für die Ursachen von Gewalt. Die Entstehungsbedingungen sind sehr unterschiedlich, es gibt unzählige Situationen, aus denen Gewalt entstehen kann.
Die langjährigen gefühlsbetonten Beziehungen zwischen den Partner:innen, von erwachsenen Kindern gegenüber den Eltern und anderen Verwandten bilden die Grundlage für Gefühle der Dankbarkeit und innerlichen Verbundenheit. Dadurch werden Betreuungs- und Pflegeleistungen als eine gewisse Selbstverständlichkeit angesehen.
Es spielt aber auch die gesellschaftliche Verpflichtung, ältere Familienangehörige zu unterstützen und zu betreuen, eine Rolle. Oft existieren wechselseitige Abhängigkeiten wie gemeinsamer Besitz, ungenügende eigene finanzielle Mittel oder zur Verfügung gestellter Wohnraum, die den Handlungsspielraum der einzelnen Personen einengen. Verschlechtert sich der Gesundheitszustand eines Menschen, führt das zu zeitintensiven Betreuungssituationen, ganz besonders dann, wenn die Ursache eine dementielle Erkrankung ist. Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Familie, in diesem Fall einzuspringen, sind sehr groß. Besonders die weiblichen Familienmitglieder können und wollen sich diesem Druck schwer entziehen. Diese Tatsache führt bei vielen betreuenden und pflegenden Angehörigen zu Erschöpfung und Überforderung.
Übergriffe und körperliche Misshandlungen sind jedoch nicht immer absichtliche, aggressive Handlungen. Vielfach geschehen sie aus Überlastung und Hilflosigkeit. Häufig ist die/der Partner:in oder in den meisten Fällen eine Tochter oder Schwiegertochter allein für die Begleitung und Versorgung zuständig, da sich Bekannte zurückziehen und die sozialen Kontakte wegfallen. Damit steigt das Risiko für gewaltgeneigte Betreuungssituationen.
Stehen nur unzureichende Informationen bezüglich Unter-stützungsmöglichkeiten zur Verfügung, oder fehlt eine aus-reichende zeitliche Entlastung, weil zu wenig regionale Dienst-leistungen wie Tageszentren und mobile Betreuungsangebote zur Verfügung stehen, erreichen die betreuenden Angehörigen rasch ihre körperlichen und psychischen Grenzen.
“Der Mensch muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln […]. Gewalt ist […] kein bloßer Betriebsunfall sozialer Beziehungen, Gewalt ist […] eine Option menschlichen Handelns, die ständig präsent ist.“ (Heinrich Popitz)